Die unerträgliche Vergesslichkeit

Was Erdogan von der DDR lernte und was die AfD damit zu tun hat.
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Von Thomsen

Glaubt man dem innerpolitischen Diskurs zur Zuwanderungsregulierung, so stehen wir vor einem nie dagewesenen Ausmaß an Bedrohungs- & Schreckenszenarien.

Bundesrepublik Deutschland im Sommer 2018. Die sozialpolitischen Debatten werden dominiert von technokratischen Begriffen und Worthülsen. Infografiken werden gereicht und mit angsterfülltem Blick hängt der Bürger an den Lippen derer, die ihr Maul bis zum Anschlag aufbekommen.
Mit Ängsten lässt sich Politik machen. Wer Konzepte gegen Angst präsentieren kann, dem ist der Wähler wohlgesonnen.

Mit diesem Text möchte ich zur Relation aufrufen und erklären, dass die derzeitigen Entwicklungen keineswegs neu sind. Im Gegenteil.

Der von Polemik geprägte Diskurs ist nur eine Wiederholung alter Muster. Jeder von uns, als auch unsere Elterngeneration, sollte sich einer undifferenzierten Reaktion auf bereits totgeglaubte Mechanismen widersetzen.

 

„Mit diesem Text möchte ich zur Relation aufrufen und erklären, dass die derzeitigen Entwicklungen keineswegs neu sind.“

Die Parallelen zur innerdeutschen Situation zwischen den 70er & 80er Jahren, sagen das Dilemma des EU-Türkei-Abkommens von 2016 voraus.

Während die Türkei Flüchtlings-“Ströme“ als Druckmittel verwendet und wir uns ob der Kaltschnäuzigkeit an den Kopf fassen, wird es umso notweniger einen Blick in die eigene Vergangenheit zu werfen:

Die DDR lässt zwischen 1978 und 1986 im großen Stil Flüchtende aus afrikanischen Bürgerkriegsländern, sowie Arbeitsmigranten
über ihr Staatsgebiet, in die damalige BRD einreisen.
Geflüchtete werden im Staatsgebiet eingesammelt und per Bahn über die innerdeutsche Grenze, in den Westteil Berlins transportiert. Dort werden sie den Behören überlassen.

Im Streit um wirtschaftsnotwendige Kreditrahmenverträge, werden die Flüchtenden zur Verhandlungsmasse – zu Gunsten der DDR.
Zuvor war die Bundesrepublik bis in die späten 70er Jahre lediglich mit einer niedrigen vierstelligen Zahl an Geflüchteten, vornehmlich aus dem „Ostblock“ konfrontiert. Deren Fluchtursachen finden sich in den damaligen Umbrüchen in Ungarn und Polen. Diese Personen wurden allzugerne aufgenommen und als Zeugnisse der humanistischen Überlegenheit des Westens, gegenüber dem Osten instrumentalisiert.
Nach 1978 steigt die Zahl der Asylsuchenden aus Drittländern (wie Afghanistan) in einem ungekannten Ausmaß an. Im Wahljahr 1980 wird erstmals die 100.000er Marke gerissen.

„Während die Türkei Flüchtlings-“Ströme“ als Druckmittel verwendet und wir uns ob der Kaltschnäuzigkeit an den Kopf fassen, wird es umso notweniger einen Blick in die eigene Vergangenheit zu werfen.“

In Deutschland gestellte Asylanträge seit 1953, Quelle: Migration und Asyl in Zahlen, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, 2004, S. 18. (© BAMF)

Die verfügbaren Aufnahmesysteme kollabieren und es entstehen Transitzentren.

Diesen Umstand und dessen mediale Begleitung nutzt die CDU/CSU um die Debatte mit Begriffen wie „Scheinasylanten“, „Asylbetrug“ und „Asylantenschwemme“ anzuheizen. Mit allen Mitteln wird versucht, die Bundesregierung zu einer Grundgesetzänderung zu zwingen.

Zeitungsredaktionen sehen sich einer nie dagewesenen Menge an hasserfüllten Leserbriefen konfrontiert. Gleichzeitig hält sich die Arbeitslosenquote auf einem Dauerhoch. Wieder ist es die CDU/CSU, die den Druck durch Untergangsrhetorik und dem Aufbau von Schreckenszenarien erhöht:

„Als – nach der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte – mögliche Asylberechtigte“, heißt es, kämen Afrikaner und Asiaten „in der Größenordnung von 50 Mio“ in Betracht; jeder zweite Einwohner Westdeutschlands könnte eines Tages ein „Asylant“ sein.

Der Berliner Innensenator Heinrich Lummer (CDU) bezeichnet Asylsuchende als „Rauschgift-Container einreisenden Straftäter aus dem Nahen und Mittleren Osten, der zum Zwecke der Prostitution einreisenden Afrikanerin und dem mit 50prozentiger Wahrscheinlichkeit kriminellen Libanesen“

Diese Saat geht auf. Es erhöht sich die Anzahl  fremdenfeindlicher Übergriffe und Anschläge.

Auf Grund der anhaltend desaströsen Wirtschaftslage, wächst unter der Bevölkerung die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust an die vermeintlich billigeren Arbeitskräfte.

Dass dies unter Berücksichtigung der damals geltenden Sperrfrist für Asylsuchende und der gesetzlich geregelten Bevorteilung von deutschen Arbeitnehmern („Inländerprimat“) eine Stammtischfantasie blieb, verwundert nicht.

Damals wie heute geht die Mär vom Anstieg der Kriminalität um. Statistiken präsentieren Trends, die nichts Gutes verheißen.
1968 kommt auf 47 Einwohner der Gesamtbevölkerung 1 Tatverdächtiger. Innerhalb des Segmentes der Asylanten steht es 12:1.
Dabei unterscheidet die Statistik keineswegs zwischen der Art des jeweiligen Deliktes. Diebstähle werden genauso gewertet, wie Verstöße gegen das Ausländerrecht. Doch welcher Deutsche kann gegen Auflagen aus dem Ausländerrecht verstoßen? Derlei hilfreiche Erläuterungen lassen sich selten finden.

Mitte der 80er Jahre stellt die DDR, selbstverständlich gegen lukrative Auflagen, ihre Überführungspraxis ein und kann den Sieg für sich verbuchen.
Der „unkontrollierte Zustrom“ bleibt jedoch weiterhin, auch ohne Zutun der DDR bestehen. Derweil bereitet die rechtsextreme Partei Die Republikaner den Aufstieg der neuen Rechten.

Wer spätestens hier noch Probleme hat, eine Blaupause für die Verhandlungstaktik der Türkei zu sehen, oder sich den Aufstieg einer Alternative für Deutschland, vor dem Hintergrund der Geschehnisse zu erklären, muss wohl eingenickt sein.

„Auf Grund der anhaltend desaströsen Wirtschaftslage, wächst unter der Bevölkerung die Angst vor dem Arbeitsplatzverlust an die vermeintlich billigeren Arbeitskräfte“

Kaum ein Jahrzehnt später.

Die Wendejahre sind geprägt von einer schmerzhaften Inflation, steigenden Sozialausgaben und einer allgegenwärtig gefühlten Depression.
West gegen Ost. Wir gegen Die. Blühende Landschaften bleiben aus und die anhaltenden sozialen Spannungen entladen sich in unzähligen Angriffen auf Asylsuchende.

Der damalige Politikbetrieb stellt weiterhin die Zuwanderungsregulierung als einzig mögliche Lösung für den gesellschaftlichen Frieden in den Vordergrund.
Erneut treibt die Union aus CDU/CSU mit ihrer Rhetorik die SPD und FDP vor sich her.

Die Progrome von Rostock Lichtenhagen (1992) und der Brandanschlag in Solingen (1993) markieren die Höhepunkte der bürgerlichen Unfähigkeit zur Reflektion. Die Medien verzetteln sich erneut in Wortklaubereien und substantivierten Neuschöpfungen.

Entgegen jeder Realität entsteht eine Fokusierung in den Medien, welche die Suggestion erzeugt, Deutschland sei allein mit dieser Entwicklung.

Das Asylrecht wird bis Ende 2010 neu strukturiert. Dies führt zu einer Erschwerung der Einreise und einem deutlichen Abschwung der Asylanträge.
Der Begriff „Festung Deutschland“ wird geprägt und die Zahl der Asylsuchenden verteilt sich stärker auf die EU Nachbarländer.

2015 sind es (mit einigen Ausnahmen) genau diese Länder, die sich deutlich radikaler gegen eine gesamteuropäische Grenzregelung stellen.
Dies hat zur Folge, dass der Großteil der Flüchtenden nur eine Möglichkeit sieht: Deutschland
Die absoluten Zahlen führen zu einer neuen Überfremdungsangst.
Im Vergleich der Einwohnerzahlen, zur Zahl der gestellten Asylanträge, sind Länder wie Ungarn, Schweden oder Österreich mehr als doppelt so stark belastet. Den Medien misslingt es erneut den Blick auf die Relationen zu lenken.

Pegida und AfD lösen die alten rechtsextremen Parteien und Verbände ab.

Es gelten neue Transitregelungen. Die Fluchtursachen bleiben hausgemacht und wir schauen mit offenem Mund zu.

Diese unerträgliche Vergesslichkeit!

Quellen:
https://www.boell.de/de/2015/08/20/die-asyldebatte-gestern-und-heute
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13520281.html
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56368/migrationspolitik-in-der-ddr?p=all
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration/56435/flucht-und-asyl-1950-1989
https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/dossier-migration-ALT/56443/flucht-und-asyl-seit-1990
https://www.welt.de/geschichte/article149441251/Schon-die-DDR-nutzte-Fluechtlinge-als-Druckmittel.html
https://www.welt.de/wirtschaft/article157459330/Deutschland-traegt-seit-30-Jahren-Europas-Asyl-Last.html

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